10 Thesen zum bleibenden Sinn christlicher Rede von Mission


D. Werner, Berlin

  1. Infragestellung christlicher Rede von Mission heute:

Christliche Rede von Mission ist in ihrer Geschichte immer schon in Frage gestellt worden, von Strömungen innerhalb der Kirche ebenso wie von solchen außerhalb der Kirche.  Heute gilt christliche Mission in einer mindestens vierfachen Weise als unselbstverständlich bzw. anstößig: Populäres Denken und die neuen Diskurse über Entkolonialisierung in Kirche und Gesellschaft assoziieren mit Mission im wesentlichen bzw. exklusiv „Kolonialmission“, d.h. herrschaftsgestützte Zwangschristianisierung und Kulturzerstörung einheimischer Völker. Andere Strömungen gehen noch weiter: Säkularistisch-agnostische Diskurse verbinden mit Mission einen grundsätzlich illegitimen Öffentlichkeitsanspruch von Kirche, Glauben und christlicher Tradition, der im Zeichen radikal abnehmender Kirchenbindung und eines größer werdenden nicht-kirchlich orientierten und dezidiert religions- und kirchenkritischen Bevölkerungsteils zurückgewiesen werden muss und einer weniger offensiven Sprachbildung Platz machen muss. Der öffentliche Raum muss nach dieser Denkrichtung freibleiben von jedweder Äußerung religiöser Identität, noch dazu einer werbend missionarischen. Entwicklungspolitische und vom interkulturellen theologischen Austausch inspirierte Diskurse andererseits haben argumentiert, dass dem „(west)missionarischen Zeitalter“ das „entwicklungsbezogene Zeitalter“ gefolgt sei und dass die befreiungsorientierten Momente eines kritischen Missionsverständnisses in ein progressives Verständnis von Entwicklung und Befreiung integriert und absorbiert werden müssen und der Missionsbegriff durch den (leichteren) Begriff der „interkulturellen Theologie“ oder den der „Entwicklungs-zusammenarbeit“ abgelöst werden könnte.[1] Diese Orientierung könne dann auch mit dazu beitragen, die Existenz einer theologischen Randdisziplin als „interkulturelle Theologie“ im Konzert anderer Wissenschaften im Kontext einer säkularen Universität zu sichern und zu rechtfertigen. Schließlich gibt es eine Argumentationslinie in manchen autokratisch-religiös-nationalistischen Regierungen in Übersee (z.B. Indien), die ihre Einschränkungen der Religionsfreiheit, Anti-Konversions-Gesetze und Beschränkungen finanzieller Transaktionen für Kirchen damit begründen, dass christliche Mission per se einen massiven Angriff auf die religiös-nationalistische Grundidentität asiatischer Länder darstellt und als Eindringen einer wesentlich kultur-fremden, eben westlichen Religion in den asiatischen Kulturraum verboten werden muss.  

  • Unverzichtbarkeit theologischer Kritik historischer Gestalten von Mission:

Es ist in der Tat unverzichtbar und unbestritten, dass der Begriff Mission heute nur im Durchgang und unter Einbeziehung der historisch-politischen Kritik von kolonialen oder imperialen Gestalten von Mission sich theologisch darstellen und entfalten kann. Die historisch-theologische Kritik einer einseitigen „Westmission“ oder von Gestalten der Kolonialmission ist allerdings nicht neu, sondern seit der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Neuanfang des missionstheologischen Dialoges innerhalb des Internationalen Missionsrates bzw. in der ökumenischen Bewegung nach 1961 ein fester und kontinuierlicher Bestandteil des internationalen Gesprächs gewesen.  Die Antwort der ökumenischen Missionsdebatte auf die „Krise von Mission“ war allerdings nicht ein Fallenlassen des Missionsbegriffs, sondern eine Neuinterpretation christlicher Mission im Horizont eines erweiterten Verständnisses von Gottes Sendung zur Verwandlung der Welt (Missio Dei Willingen 1952).  Bei der Missio Dei geht es um unsere Anteilnahme an einer Bewegung zur Versöhnung, der Heilung und der Verwandlung der Welt, für den die christliche Kirche ein Zeugnis gibt ohne zugleich das einzige Ziel und Instrument für diesen Prozess missionarischer Transformation zu sein.  Die Synode der EKBO hat sich in verschiedenen Etappen mit wegweisenden Erklärungen und Grundsatzpapieren an einer Rekonstruktion eines zeitgemäßen und ökumenisch informierten Verständnisses christlicher Mission beteiligt.[2]

  • Das Gesandtsein der Glaubenden und die interkulturelle Kommunikation des Evangeliums als biblischer Kerngehalt von Mission:

„Mission!“ – dieser Begriff verbindet uns mit allen Wortformen des biblischen „apostello“, des Gesandtseins, das unzweifelhaft ein Wesensmerkmal der Kirche ist und bleibt – zu allen Zeiten und an allen Orten.  Es geht bei christlicher Mission um einen sense of purpose, um ein dezidiertes Auftragsbewusstsein von Kirche, um ihren Kernauftrag. „Mission heißt zeigen, was man liebt.“ (Steffensky) Eine Kirche, die nicht mehr weiß, was ihre eigene Berufung ist und wozu sie da ist, verliert schnell ihr spezifisches Profil, auch ihre Kommunikationsfähigkeit mit der Gesellschaft. Den Ausgangspunkt bei einem trinitarisch ausgerichteten Konzept der Missio Dei zu nehmen, ist eine Grundlage dafür, dass kritisch unterschieden werden kann zwischen verzerrenden historischen Formen der „westzentrierten zivilisatorischen Mission“, die bei einigen Vertretern der Kolonialmission leitend war, und authentischen Formen des „Glaubensmission“, der „Nachfolgemission“ oder der „kommunitären Mission“, die in vielen Bewegungen der Laienmission, der Frauenmission und der Wandermission in der Geschichte des Weltchristentums eine zentrale und überzeugende Rolle gespielt hat. Christliche Mission pauschal und restlos mit Kolonialmission zu identifizieren, ist nicht nur historisch undifferenziert, sondern beraubt uns auch der Möglichkeit, neben dem Missbrauch des Missionsbegriffs auch einen positiven und theologisch legitimen Begriff von Mission sowie die Vielzahl der nicht-kolonialen Formen christlicher Mission, d.h. der interkulturellen Kommunikation des Evangeliums heute in den Blick zu nehmen. Es lohnt sich immer wieder, an Zeitzeugen eines ganzheitlichen Verständnisses christlicher Mission auch in Berlin zu erinnern (z.B. Johannes Evangelista Gossner, Johann Hinrich Wichern, David J. Bosch, Desmond Tutu…).  Auch für den Missionsbegriff gilt – wie für viele andere christliche Grundbegriffe, die eine ambivalente Wirkungs- und Interpretationsgeschichte gehabt haben: abusus non tollit usum.

  • Das Missio Dei Denken in der ökumenischen Debatte – rélecture des Missionsbegriffs und die Vielfalt kontextueller Gestalten von Mission heute

Es hat eine lange Phase der intensiven ökumenischen rélecture und der Umprägung des Missionsbegriffs gegeben seit den 60iger Jahren bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts, die zu wesentlichen Perspektiverweiterungen des Verständnisses von Mission geführt hat. Deshalb kann die Mission der Kirche nicht gedacht und verengt definiert werden als machtgestützte Imperialmission des europäisch-nordatlantischen Christentums – wie in der Tat es in einem Teil (aber eben nicht dem Ganzen!) der Missionsgeschichte der Fall gewesen ist – , sondern christliche Mission wird verstanden als Teilhabe und Teilgabe an der Missio Dei, der heilenden, der versöhnenden, und der Gerechtigkeit und Frieden stiftenden Sendung Gottes in diese Welt.  Ein verantwortlicher, biblisch-theologischer Begriff der Mission aktualisiert also die Erinnerung, dass wir als Christen in der Welt einen Auftrag haben, der nicht von uns selbst ausgeht, sondern der über uns hinausgeht, der der ganzen Welt gilt und an dem wir – in Partnerschaft mit Geschwistern auf der ganzen Welt verbunden – teilhaben können.[3]  Die Periode einseitiger Westmission ist lange zu Ende gekommen. Aber man sollte sich den Blick nicht verstellen lassen für die ungeheure, andauernde Dynamik christlicher Mission weltweit, die nach wie vor – heute mit wesentlichen Akteuren aus den Kirchen des Südens selbst – vor sich geht und weitergeht. Christliche Mission geht weiter und ist nicht zum Ende gekommen. Südindische Organisationen christlicher Mission arbeiten in Bildungs-, Sozial- und Gemeindegründungsprojekten in Nordindien. Süd-Koreanische Missionsorganisationen sind präsent in vielen Ländern der Welt. Selbst-Christianisierungsprozesse geschehen in vielen indigenen Völkern verschiedener Kontinente. Die differenzierte Vielfalt der sehr unterschiedlichen missionarischen Prozesse in verschiedenen Teilen der Weltchristenheit und in den globalen Migrationsbewegungen sowie den transatlantischen Missionsnetzwerken afrikanischer und asiatischer Kirchen sollte aufmerksam wahrgenommen und nicht durch grundsätzliche Vermeidung des Missionsbegriffs ausgeblendet werden.

  • Missionarische Kommunikation als Entfaltung von Interkulturalität von Kirche

„Wesen und Auftrag der Kirche ist die Kommunikation des Evangeliums in Wort und Tat. Da-mit ist Kirche Teil der missio Dei – jener lebendigen Bewegung, die von Gott ausgeht und selbst Gott ist, die die Schöpfung ins Leben ruft und erhält, die allen Geschöpfen Ansehen und Bedeutung gibt und die in der Person und Geschichte Jesu Christi „Hand und Fuß bekommt“. Insofern ist Kirche immer missionarische Kirche: ihrem Wesen und Auftrag entsprechend redet sie von der schöpferischen, erhaltenden und würdigenden Hinwendung Gottes zu seiner Welt und seinen Geschöpfen. Sie handelt so, dass sie die Verwirklichung dieser heilsamen Hinwendung Gottes in allen Bereichen des Lebens und an allen Orten der Welt fördert und fordert. Eine missionarische Kirche hat damit unweigerlich einen interkulturellen Charakter. Denn die Bewegung Gottes, der sie ihr missionarisches Wesen verdankt, macht nicht Halt an den jeweiligen kulturellen Grenzen einer konkreten Kirche oder Gesellschaft, in der sie wirkt. Und umgekehrt hat die interkulturelle Öffnung der Kirche unweigerlich einen missionarischen Charakter. Denn interkulturelles Denken, Lernen und Handeln ist darauf ausgerichtet, mit Menschen aus anderen kulturellen und religiösen Traditionen reziproke Begegnungs-, Kommunikations- und Lernprozesse zu eröffnen, die im Glauben als Verwirklichung der Hinwendung Gottes zur Welt und zu den Menschen verstanden werden können. Eine interkulturell orientierte, missionarische Kirche kennzeichnet deshalb die Fähigkeit, das Evangelium im Horizont der Weite und Vielfalt kultureller Lebenskontexte und Lebenserfahrungen und in einem vielseitigen, offenen und (selbst-)kritischen Kommunikations- und Argumentationsprozess zu verkündigen.“[4]

  • Kein Verzicht auf den Missionsbegriff in der Mehrheit der Kirchen des Südens

Es sollte uns nachdenklich stimmen, dass viele Kirchen Afrikas, z.B. in Tanzania, Nigeria und auch in Äthiopien keinesfalls auf den Begriff christlicher Mission verzichtet haben, sondern dass in der Regel eine deutliche Hochschätzung und Erinnerung an die westlichen Missionare besteht, die mit ihrer Geschichte der Christianisierung bestimmter Regionen oder ethnischer Gemeinschaften verbunden sind. Indem Kirchen des Südens an einem dezidiert christlichen Begriff der Mission festhalten, selbst wenn sie auch die Schattenseiten westlicher Kolonialmission erfahren haben, machen sie deutlich: Christliche Mission gehört zum Wesen der Kirche. Sie ist mehr und anderes als westliche Kolonialmission. Die Ökumenische Missionsdiskussion hat deutlich gemacht: Nicht die Begriffe „Mission“ und „Macht“, sondern die Begriffe „Mission“ und „Respekt“ gehören theologisch zusammen. Dies wurde seinerzeit in den ausführlichen Materialien des ökumenischen Lernprozesses „Mission Respekt“[5] auf breitester ökumenischer Ebene unter Beteiligung von ÖRK, World Evangelical Alliance und Vatikan ausführlich dargelegt. Doch in den gegenwärtigen Debatten um die Verabschiedung vom Missionsbegriff scheinen in den jüngeren Generationen diese ökumenischen Erinnerungen ebenso in den Hintergrund gerückt zu sein, wie die Erinnerung z.B. an den missionarischen Auftrag der Kirche durch die EKD-Synode von Leipzig 1999[6] oder die EKD-Studie „Das Evangelium unter die Leute bringen“ aus dem Jahre 2001[7], die beide dem Thema „Mission“ eine neue Grundlegung und Kontextualisierung im deutschen Kontext auf dem Hintergrund abnehmender Kirchlichkeit schenkten.[8]

  • Zusammengehörigkeit von Mission und Entwicklung, Evangelisation und Diakonie, Zeugnis und Dienst

„Missionarisches Zeugnis und Entwicklungsdienst, Verkündigung des Heils und verantwortliche Mitwirkung am gesellschaftlichen Geschehen gehören zusammen. Beide dürfen nicht gegeneinander ausgespielt oder in ihrer Rangfolge und Dringlichkeit verschieden bewertet werden.“  Diese Kernthese der Entwicklungsdenkschrift der EKD von 1973 hat nach wie bleibende Gültigkeit und sollte unter den veränderten Voraussetzungen heutigen kirchlichen Handelns – in beide Richtungen! – neu bewährt und aktualisiert werden.  Die neuere EKD Studie „Kirche sein in einer globalisierten Welt“  (2015) beschreibt Mission und Entwicklung als Lernbewegungen, die in einer Weggemeinschaft miteinander verbunden sind. Die Reich Gottes Hoffnung hat die Anfänge sowohl der Missions- wie die der späteren Entwicklungsbewegung inspiriert. Ökumene-geschichtlich waren und sind deshalb sowohl Mission wie auch Entwicklung Ausdruck von Globalisierungs-Visionen, sie sind Ausdruck einer Bewegung zur Grenzüberschreitung und Ent-Provinzialisierung des christlichen Glaubens gewesen, die nach wie vor zum Wesen des christlichen Glaubens hinzugehört.

  • Erwartungen und Rückfragen von Gesellschaft und Politik nach religionsbewussten und missionsengagierten Kirchen

Die Politik fragt heute auf der nationalen wie internationalen Ebene mit neuer Intensität nach der Rolle von FBOs und Religionen für nachhaltige Entwicklung.  Hintergrund ist nicht nur eine gewisse Ernüchterung über die Rolle nationaler Regierungen und internationaler Organisationen im Blick auf die Durchsetzbarkeit von neuen Entwicklungszielen („developmental fatigue“), sondern das verstärkte Wissen über die Rolle von Werten und Leitorientierungen, ohne die sich viele der Entwicklungsziele der Agenda für Nachhaltigkeit nicht erreichen lassen.  Wenn Religionen nicht nur Teil des Problems, sondern auch Teil der Lösung werden sollen, beinhaltet die neue Nachfrage nach dem Beitrag der FBOs eine große Chance für die Kirchen. Sie impliziert sowohl eine Überwindung der “developmental fatigue“ als auch eine Überwindung der „missionary fatigue“, sie erfordert sendungs- und öffentlichkeitsbewusste Kirchen.  Zwar können staatliche Instanzen auf Grund ihrer weltanschaulichen Neutralität missionarische Aktivitäten der Kirchen im engeren Sinne nicht aktiv finanziell fördern, aber die Kooperation zwischen Staat und Kirche in Deutschland ist keinesfalls an eine Selbstzurücknahme des missionarischen Anspruchs der Kirche gebunden. Staat und Gesellschaft brauchen selbstbewusste und religiös wie sozial vitale Kirchen als Gegenüber. Für die christlichen Kirchen bedeutet dies, dass sie sich selber deutlicher öffentlich artikulieren im Blick auf den Beitrag, den sie als „unterschätzte Treiber der Großen Transformation“ einbringen können. Kirchen, die nichts mehr wollen und ihre spezifische Botschaft artikulieren können, werden die Erwartungen, die Gesellschaft und Politik an sie stellen, nicht mehr erfüllen können. Der Dialog mit Partnerkirchen hingegen bietet eine Chance neue, auch dringend benötigte religiös konnotierte Leitbilder einer nachhaltigen Entwicklung (z.B. „Buen vivir“; „Ubuntu“) auch im politischen Dialog zur Sprache zu bringen. Christliche bzw. religiöse Sprachfähigkeit im Blick auf die „Rechenschaft von der Hoffnung, die in uns ist“ (1. Petr. 3,15ff – der klassische biblische Topos gegen einen programmatischen Verzicht auf den Missionsbegriff) ist deshalb mehr denn je sowohl von innen wie von außen gefragt.

  • Schattenseiten einer Abwendung von einer Kultur missionarischer Kommunikation – Verlust einer wesentlichen Dialogbasis mit den Kirchen des Südens

Eine Kirche, die auf die explizite Artikulation der Mission der Liebe Christi und der Versöhnung verzichtet, wird – vor allem in einem Kontext, der durch Zunahme on gesellschaftlicher Polarisierung, hate speech und Simplifizierung gekennzeichnet ist –   stumpf, angepasst an den Zeitgeist und verliert möglicherweise rasch den kritischen Widerspruch und Anstoß, der heute so dringend im Verhältnis zwischen antagonistischen Gruppen und Völkern, Israelis und Palästinensern ebenso wie Ukrainern und Russen, gebraucht wird. Zudem droht die Gefahr, dass eine Kirche, die keinen expliziten positiven Begriff christlicher Mission mehr kultiviert, tendenziell kommunikations-, dialog- und partnerschaftsunfähig wird mit der Weltökumene, d.h. mit denjenigen Kirchen in der südlichen Hemisphäre, bisher immer noch der signifikanten Mehrheit in der Weltchristenheit, die an einem expliziten Begriff von christlicher Mission festhalten und ihn – trotz der Irrungen und Wirrungen der Kolonialmission – nicht aufgeben wollen und können. Dass sich Partner von uns abwenden, weil wir auf einen expliziten Begriff christlicher Mission verzichten würden, wäre ein zu hoher Preis dafür, dass wir als Kirche in dieser Gesellschaft uns ohne den Programmbegriff der Mission eher akzeptabel und weniger anstößig wähnen.   Die weitere kritisch-positive theologische Entfaltung und Auslegung dessen, was die Mission der Liebe Gottes heute bedeutet, macht uns auch nicht anfälliger für ein Verwechselt-Werden mit Kirchen aus dem Umkreis des christlichen Fundamentalismus, deren tendenziell gewalt- und herrschaftsförmigen Missionsbegriff man in der Tat zurückweisen und ablehnen muss. Aber es gilt eben nach wie vor für den Missionsbegriff ebenso wie für viele anderen missbrauchte Begriff der christlichen Theologie (z.B. „Herrschaft“, „Herr“, „Reich Gottes“) das lateinische Sprichwort: Der Missbrauch hebt den (rechten) Gebrauch nicht auf.

  1. Multidirektionales missionarisches Netzwerk des interkulturellen Lernens verschiedener Kirchen – auf dem Wege zu einer migrationssensiblen Ekklesiologie

Missionarische Initiativen geschehen heute „from everywhere to everywhere“. Wir brauchen deshalb ein multidirektionales Netzwerks des Lernens in missionarischen und entwicklungsbezogenen Partnerschaften – weltweit ebenso wie in der Region und vor Ort. Programme wie die der Freiwilligendienste der Austauschs zwischen Nord und Süd, Ost und West, haben ein enormes Potential zur interkulturellen Sensibilisierung und auch der missionarischen Bewusstseinsbildung in der jüngeren Generation – wenn nur die Nacharbeit und die Verknüpfung dann in die Heimatkontexte diese Potentiale auch ausreichend zu fördern versucht.  Eine gemeinsame christliche Rede von Mission kann sich bei uns dann und dort entfalten, wo der interkulturelle und theologische Dialog und die Jugend-Begegnungsarbeit vertieft wird mit überseeischen Partnerkirchen, aber auch mit Kirchen vor der eigenen Haustür, die in der ersten, zweiten oder dritten Generation ihre Erfahrungen mit einem Migrations-hintergrund und einer diasporaorientierten bzw. migrationssensiblen Ekklesiologie einbringen. Der Schlüssel zu einem neuen kontextuellen Verständnis von christlicher Mission bei uns kann nicht von einer Kirchenfamilie nur je für sich alleine gefunden werden, er liegt in einer Stärkung der interkulturellen Lerngemeinschaft zwischen einheimischen Kirchen und Migrationskirchen verborgen. Gestalten einer interkulturellen Mission, in der Landeskirchen und Gemeindebildungen mit Migrationshintergrund zusammenwirken, sind längst in vielfachen Formen existent. Sie brauchen mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung, so dass zusammen mit einer interkulturellen Öffnung von Kirche auch Prozesse der missionarischen Aktivierung und Sensibilisierung mit kreativen Formen der Verkündigung, der musikalisch-kulturellen Arbeit und der interkulturellen Seelsorge und diakonischen Arbeit entstehen. 


[1] Vgl. die Thesen der DGMW, die seinerzeit (2005) aus dem Gespräch zwischen Missionstheologie und Religionswissenschaft und aus der Suche nach Gründen für eine weitere akademische Etablierung für das Fach Missionstheologe/Interkulturelle Theologie an staatlichen Universitäten entstanden: in: https://www.theologie.uni-hamburg.de/einrichtungen/institute/moer/miss-wiss-positionspapier.pdf

[2] Vgl: Impulspapier für die missionarische Weiterarbeit in der EKBO von 2019, in:  :https://www.ekbo.de/fileadmin/ekbo/mandant/ekbo.de/2._GLAUBE/Kirche_mit_Mission_Impulspapier_EKBO.pdf; Landessynode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz vom 11. bis 14. November 2009:

Beschluss betr. Gemeinschaft mit Gemeinden anderer Herkunft und Sprache. Aus den Vorjahren vgl. ebfls: Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg (Hg.), Leitlinien kirchlichen Handelns in missionarischer Situation, Berlin 2001. Vgl. auch das Internet-Forum Leitlinien (www.ekbo.de/mission/mission_index.php) sowie als Vorstufe das Impulspapier: Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg, (Hg.), Wachsen gegen den Trend. Auf dem Weg zu einer missionarischen Kirche, Berlin 1998. Ebenfalls: Salz der Erde. Das Perspektivprogramm der EKBO, Berlin 2007: In: https://innovation.ekbo.de/fileadmin/ekbo/mandant/reformprozess.ekbo.de/EKBO_Perspektivprogramm.pdf

[3] Zur erneut aufgekommenen missionstheologischen Fachdiskussion und insbesondere zur Ersetzung des Begriffs „Missionstheologie“ durch den Begriff der „Interkulturellen Theologie“ (2005) vgl. den jüngsten Beitrag von Christoffer H. Grundmann: Missionstheologie als kritische Reflexion des Christuszeugnisses. Warum Missionstheologie nicht mit Interkultureller Theologie identisch ist, in: ZMR, 107. Jahrgang (2023) 92 – 103

[4] Dieser Abschnitt entstammt aus dem Gesamtkonzept zur Interkulturellen Öffnung von Kirche der Nordkirche vom Januar 2022!

[5] Vgl: Mission Respekt. Christliches Zeugnis in einer multireligiösen Welt. Dokumentation eines internationalen ökumenischen Kongresses 27.-28. August in Berlin, in: https://missionrespekt.de/fix/files/Doku%20MissionRespekt_web.pdf

[6] Kundgebung der 4. Tagung der EKD-Synode in Leipzig 1999 „Reden von Gott in der Welt – Der missionarische Auftrag der Kirche an der Schwelle zum 3. Jahrtausend“, in: https://www.ekd.de/evangelium_kundgebung_2001.html

[7] Das Evangelium unter die Leute bringen, EKD-Studie 2001, in: https://www.ekd.de/evangelium_vorwort_2001.html

[8] Vgl. Die ausgezeichnete theologische Zusammenfassung von Bischof Wolfgang Huber aus dem Jahre 2009: „Die Welt im Licht der Gnade – Der missionarische Auftrag unserer Kirche im 21. Jahrhundert“ – Vortrag in der St. Matthäus-Kirche, Berlin, in: https://www.ekd.de/090608_huber_berlin.htm